Logo SFZSFZ - Passau
Sonderpädagogisches Förderzentrum Passau

Presse 2020

   Zurück zur Übersicht 

 

"Unsere Kinder werden gebraucht"
am 25.04.2020 in der PNP

 

SoRin Reinhilde Galler

Seit 2013 steht Reinhilde Galler an der Spitze des Sonderpädagogischen Förderzentrums.

 

100 Jahre in Bewegung und jeder geht sein Tempo: So lautet das Motto der Hans-Bayerlein Schule zu ihrem großen Jubiläum. Schulleiterin Reinhilde Galler erklärt, wie es das SFZ bis heute schafft, seine Schüler behutsam zu fördern ohne dabei auf der Stelle zu treten.

100 Jahre gibt es das SFZ jetzt schon. Eigentlich ein Grund zu feiern, oder?
100 Jahre alt sind wir schon seit Februar, aber am 6. Mai wäre es so weit gewesen, dann hätte unsere große Jubiläumsfeier begonnen. Ein Festakt im Rathaus war geplant, zu dem Lehrer, Schüler, Ehemalige und Eltern eingeladen waren, genauso wie Landrat, Oberbürgermeister, Regierungspräsident, Kirchenoberhäupter und Kultusminister als Ehrengäste. Für die Kinder haben wir gemeinsam mit Museumspädagogen einen Ausflug zur Veste Oberhaus geplant, es sollte ein Spielefest werden. Für die breite Öffentlichkeit haben wir einen Tag der offenen Tür organisiert. Die Lehrer haben mit den Schülern ganz viel vorbereitet, darin steckten zwei Jahre Planung. Aber jetzt sind erstmal alle Festlichkeiten abgesagt.

Wie hat sich die Sonderpädagogik im Laufe der vergangenen 100 Jahre verändert?
Inzwischen geht der Fokus weg von der Behinderung, die bei der Gründung durch Elternverbände noch vorherrschte. Heute richtet sich das Bestreben nach bestmöglicher individueller Förderung. Wir gehen von den Stärken jedes einzelnen aus. Jeder kann etwas, dementsprechend gestalten wir den Unterricht möglichst individuell. Wir wollen jedes Kind in seiner Gesamtheit erkennen, auf es eingehen und die notwendigen Kompetenzen vermitteln.

Welchen Zielen hat sich das SFZ verschrieben?
Uns ist die Kooperation mit vielen beteiligten Fachdiensten sehr wichtig. Wir bemühen uns um eine intensive Elternarbeit, im Großen und Ganzen klappt das wirklich gut. Allgemein kann ich heute nicht so über die Ziele unserer Schule sprechen, wie ich gerne wollte. In den vergangenen Wochen war ich nur mit Krisenmanagement beschäftigt, da bleibt wenig Raum für Visionen. Ein großer Vorsatz ist für mich, das SFZ ins digitale Zeitalter zu führen und die Kinder in dieser Hinsicht noch mehr zu fördern.

Was waren Meilensteine in der Entwicklung der Schule? Was hat sie erreicht?
Wir sind fester Bestandteil der Passauer Schullandschaft. Als Kompetenzzentrum tragen wir Sonderpädagogik durch unsere Lehrkräfte an die Regelschulen raus, an die Uni Passau und die Ludwig-Maximilians-Universität in München. Wir haben einen guten Ruf in der Wirtschaft. Unsere Praktikanten werden gerne aufgenommen und in einen Ausbildungsvertrag übernommen. Auch in der Berufsvorbereitung haben wir uns besonders verdient gemacht. Bei all dem werden wir vom Sachgebiet Förderschulen der Regierung von Niederbayern gut betreut.

Musste das SFZ im Laufe seiner Geschichte gegen Vorbehalte und Vorurteile kämpfen?
Leider kämpfen wir bis heute damit, vor allem von Seiten derjenigen, die uns nicht kennen. Die Politik nimmt uns recht wenig wahr, unsere Gesellschaft ist gymnasial- und akademikerlastig und natürlich leistungsorientiert. Intern dagegen ist die Wertschätzung bei Eltern und Kindern groß.

Was halten Sie vom Ansatz der Inklusion? Sind Sonderschulen ein Auslaufmodell?
Inklusion ist ohne Förderschulen nicht möglich. Wenn wir nicht seit Beginn des Jahrtausends darauf hingewirkt hätten, wäre die Inklusion nicht so weit, wie sie ist. Überflüssig werden wir deswegen nicht, denn der Kompetenztransfer ist wichtiger denn je. Deshalb finde ich den bayerischen Weg mit einer Koexistenz von Förder- und Regelschulen gut.

Wo hat Inklusion ihre Grenzen?
Grenzen werden erreicht, wenn das Wohl des Kindes gefährdet ist und die Seele leidet. Jedes Kind kann inkludiert werden, jedoch nicht jedes hält das aus.

Wo liegen die Vorteile einer Förderschule gegenüber einer Regelschule?
Durch die stationäre Beschulung können wir individuelle Angebote in allen Bereichen leisten. Es herrscht kein Notendruck, bis zur 8. Klasse gibt es nur Verbalbeurteilungen und Lernentwicklungsgespräche, wo genauer auf das Kompetenzprofil der Kinder eingegangen wird. Wir wollen unseren Kindern ein gestärktes, intakteres Selbstbild mitgeben und sind überzeugt davon, dass sich so ihre Chancen auf einen Abschluss verbessern. Auch die Berufsvorbereitung in Zusammenarbeit mit der Agentur für Arbeit treiben wir intensiver voran als Regelschulen.

Es heißt ja oft, das Förderschulsystem nehme den Schülern die Perspektive, dass etwas aus ihnen werden kann. Wie sehen Sie das? Welchen Weg schlagen Ihre Schüler der Erfahrung nach ein?
Alle unsere Schüler verlassen das SFZ entweder mit einem Förder- oder Mittelschulabschluss. In den meisten Statistiken wird ersterer jedoch als "ohne Abschluss" erfasst, das ist ein Problem der Anerkennung. Mehr als die Hälfte bestehen den Mittelschulabschluss. Die Schüler wechseln danach direkt in eine Ausbildung oder in berufsfördernde Maßnahmen.

Förderschulen tragen den Stempel, eine Parallelwelt zu sein. Trifft das zu?
Da muss ich schmunzeln. Ja das trifft zu. Und zwar in dem Sinne, dass wir eine sehr eng zusammenstehende Schulfamilie sind. Das ist einzigartig und leider sonst nicht immer der Fall. Ich würde mir wünschen, das ins allgemeine Leben reintragen zu können. Wenn ich an die Liebeserklärungen ehemaliger Schüler denke oder die große Berufszufriedenheit unserer Sonderpädagogen bin ich darauf sehr stolz.

Was wünschen sie sich für die Zukunft der Schule?
In erster Linie, dass wir wieder weitermachen können. Wir sind es gewohnt nah am Kind zu sein, so wie jetzt können wir die Sonderpädagogik nicht leben. Sonst wünsche ich mir, dass wir wahrgenommen werden und weiterhin für Schüler und Eltern ein positiver Wegbegleiter sein dürfen. Ich hoffe auch, dass nach den immensen Staatsausgaben die Gelder nicht fehlen, um unsere Ausstattung voranzutreiben. Das Lernen digital und zeitgemäß fortzuführen, ist für die Schüler ein Gewinn.

Und was wünschen Sie sich von Politik und Gesellschaft für ihre Schüler?
Verständnis, Offenheit und Chancen für unsere Kinder. Eins hat die Krise gezeigt: wir brauchen Leute, die Helfertätigkeiten übernehmen. Diejenigen, die die Welt am Laufen gehalten haben in der Krise, arbeiten im Einzelhandel, der Pflege oder bei der Müllabfuhr. Unsere Kinder gehen genau in diese systemrelevanten Berufe. Sie werden gebraucht und verdienen Wertschätzung.
 

Interview: Annabella Angerer-Schneider

-Foto: Schule